Historische Archive

Neben den naturwissenschaftlichen Ansätzen durchforstet auch die Geschichtsforschung Dokumente nach Hinweisen mit Klimabezug.

Klimabeobachtungen ohne Instrumente

Statt in natürlichen Archiven nach Spuren der Klimavergangenheit zu suchen, werden im Fach der historischen Klimatologie Archive der Gesellschaft herangezogen. Den Weg, den hier ein Klimatologe beschreitet, gleicht dem eines Historikers und führt ihn durch eine facettenreiche Sammlung von Quellen, Daten und Zitaten.

Diese Suche ist mit akribischer Archivarbeit verbunden. Hierzu werden bildliche Überlieferungen, alte Zeitungen, Aufzeichnungen privater Korrespondenzen und vor allem Chroniken nach zur Klimarekonstruktion geeigneten Informationen gefiltert. Der Beginn klimahistorisch verwendbarer Aufzeichnungen ist in Europa im Mittelalter anzusetzen. In klösterlichen Chroniken und Annalen aus dem 11. und 12. Jahrhundert finden sich punktuelle Beschreibungen von Wetter, Witterung und Klima. Obwohl diese Daten aus wissenschaftlicher Perspektive als unsystematisch und sporadisch einzustufen sind, stellen sie für die historisch-klimatologische Auswertung ein wertvolles Datenmaterial dar, handelt es sich doch um die einzigen direkten Informationen aus dieser Zeit. Meist wurden auffällige Temperaturabweichungen festgehalten, die Rückschlüsse auf extreme Sommer und Winter erlauben. Ebenso häufig wurden Niederschlagsextreme beschrieben, wobei hier vor allem Überschwemmungen dargestellt wurden.

Klosterchroniken, Wetterjournale, Illustrationen

Angetrieben durch die Erfindung des Buchdrucks und das Wiederaufleben der Naturwissenschaften trifft man mit Beginn der Neuzeit auf eine neue Quellengattung, die Wetterjournale. Diese enthalten tägliche systematische Beobachtungen und erfüllen somit die wissenschaftlichen Anforderungen nach kontinuierlichen, gleichartigen und quantifizierbaren Daten. Die ältesten erhaltenen Wetterbeobachtungen aus dem Raum Wien gehen auf den Arzt und damaligen Dekan der Wiener Universität Johann Emerich Aichholz zurück und nehmen ihren Ausgang im Jahr 1545. Dieser beschrieb einmal täglich die charakteristische Wetterlage mit Angaben über Niederschläge und Bewölkung. Vereinzelt sind auch Hinweise über Temperatur und Wind sowie in seltenen Fällen auch über die Windrichtung zu finden.

Wetterextreme und Katastrophen dokumentiert

Neben diesen schriftlichen Belegen existiert noch ein weites Feld an nützlichen Klimainformationen aus Gemälden, Bildern und Illustrationen sowie Schautafeln, Reliefs und so genannten Flugschriften. Darin wurden auch katastrophale Witterungsereignisse geschildert. Darstellungen von Gletscherständen, schneereichen Winterlandschaften oder zugefrorenen Seen erlauben Klimarückschlüsse und stellen in Ergänzung zu den textlichen Quellen einen wichtigen wissenschaftlichen Erkenntniswert dar (Abb. 1).

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Abb. 1: Zwei Beispiele historischer Quellen. Links: Ölbild von Thomas Ender, das das Goldbergkees in den Hohen Tauern im Jahr 1834 zeigt (Liechtenstein Museum, Wien). Rechts: Die zugefrorene Themse in London im strengen Winter 1684 (Lamb 1997).

 

Eine interessante Sonderform für Berichte mit indirektem witterungsgeschichtlichem Charakter bieten Chroniken mit Angaben über Ernteerträge und dem jahreszeitlichen Fortschritt in der Natur (phänologische Erscheinungen). So finden sich in Weinchroniken Angaben zu Qualität und Quantität der Weinernte, dem Beginn der Rebenblüte oder Traubenreife sowie Hinweise auf Frostschäden oder Hagelschlag (Abb. 2). Diese teils akribisch geführten Dokumentationen existieren seit dem 16. Jahrhundert und ermöglichen aufgrund ihrer Systematik die Bildung von gewichteten Indizes. Werden diese Daten zu späteren instrumentellen Messungen in Beziehung gesetzt und kalibriert, eröffnet dies die Möglichkeit der zahlenmäßigen Abschätzung der mittleren Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse einer Jahreszeit.

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Abb. 2: Entwicklung des 10-Jahres-Mittels der Lufttemperatur von Mai bis Juli auf der Hohen Warte in Wien. Der Verlauf wurde aus Weinerntedaten aus dem Raum Wien-Klosterneuburg (grün, 1531–1879) rekonstruiert und gegen instrumentelle Daten (rot, 1781–2007) kalibriert. Die Unsicherheiten (95 %-Konfidenzbereich), verursacht durch Datenlücken oder zufällige Instrumentenfehler, sind als dünne Linien dargestellt (Maurer u.a. 2009).

In vino veritates multae

Zur wissenschaftlichen Analyse bedarf es in einem ersten Schritt einer eingehenden kritischen Quellenbewertung. Informationen über die persönlichen Motive des Verfassers, seinen Bildungsweg, sein berufliches Tätigkeitsfeld sowie über den herrschenden Zeitgeist und den Erkenntnisstand über Wetter und Klima sind von Interesse, um die überlieferten Informationen von subjektiven Komponenten zu befreien. Danach ist es notwendig, die verbalen Klimabeschreibungen einer semantischen Analyse zu unterziehen. Durch Prüfung der sprachlichen Differenzierung kann auf die Intensität der klimatischen Ereignisse geschlossen werden, wodurch die Einteilung in Klassen ermöglicht wird. Diese Transformation in numerische Indexreihen erlaubt statistische Untersuchungen. Bei der Ableitung der Indizes fließen neben den schriftlichen Hinweisen auch Erkenntnisse aus anderen Klima-Proxies sowie Daten der ersten instrumentellen Messungen mit ein. Ein weiteres Bewertungskriterium ergibt sich aus der Tatsache, dass klimatische Vorgänge räumlich korrelieren. Beispielsweise muss ein strenger Winter oder eine langanhaltende Trockenperiode auch in Aufzeichnungen benachbarter Regionen zum Ausdruck kommen.

 

Literatur:

Brázdil R., Wheeler D., Pfister C. (Hg.) (2010): European climate of the past 500 years based on documentary and instrumental data. Climatic Change 101, 310 Seiten, doi:10.1007/s10584-010-9866-x

Böhm R. (2010): Heiße Luft – nach Kopenhagen. Reizwort Klimawandel. Fakten – Ängste Geschäfte. 2. Aufl. Wien, Klosterneuburg: Edition Va Bene, 280 Seiten, ISBN 978-3851672435

Büntgen U., Tegel W., Nicolussi K., McCormick M., Frank D., Trouet V., Kaplan J.O., Herzig F., Heussner K.U., Wanner H., Luterbacher J., Esper J. (2011): 2500 years of European climate variability and human susceptibility. Science 331, 578–582, doi:10.1126/science.1197175

Glaser R. (2008): Klimageschichte Mitteleuropas. 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. 2. Aufl. Darmstadt: Primus, 264 Seiten, ISBN 978-3-89678-604-3

IPCC (2021): Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Masson-Delmotte, V., P. Zhai, A. Pirani, S.L. Connors, C. Péan, S. Berger, N. Caud, Y. Chen, L. Goldfarb, M.I. Gomis, M. Huang, K. Leitzell, E. Lonnoy, J.B.R. Matthews, T.K. Maycock, T. Waterfield, O. Yelekçi, R. Yu, and B. Zhou (eds.)]. Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA, In press, doi:10.1017/9781009157896.

Lamb H.H. (1997): Climate, history and the modern world. London: Routhledge, 433 Seiten

Maurer C., Koch E., Hammerl C., Hammerl T., Pokorny E. (2009): BACCHUS temperature reconstruction for the period 16th to 18th centuries from Viennese and Klosterneuburg grape harvest dates. Journal of Geophysical Research 114, D22106, doi:10.1029/2009JD011730

Pfister C. (1999): Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen (1496 – 1995). Bern, Wien: Haupt, 304 Seiten, ISBN 978-3258056968

Strömmer E. (2003): Klima-Geschichte. Methoden der Rekonstruktion und historischen Perspektive. Ostösterreich 1700 bis 1830. Wien: Deuticke, 325 Seiten, ISBN 978-3700546757

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