Massenbilanz Eisschilde

Die grundsätzliche Idee der Massenbilanz eines Eisschildes unterscheidet sich nicht von der für die wesentlich kleineren Gebirgsgletscher.

Messbar durch modernste Satellitentechnologie

Seit etwa 1992 werden Fernerkundungsdaten für die Erforschung der Eisschilde der Erde verwendet. Erst über die Fernerkundung und Modellierung kann man räumlich und zeitlich ausreichend dichte Datensätze erzeugen, um für derartig große Gebiete Aussagen zu treffen. Bei der Quantifizierung des Massenhaushalts von Eisschilden kommen hauptsächlich drei verschiedene methodische Ansätze zum Einsatz.

Im Folgenden werden drei Ansätze zur schwierigen Massenbilanzierung der riesigen Eisschilde der Antarktis und Grönlands vorgestellt, die sich jeweils durch spezifische Vorteile und Unsicherheiten auszeichnen. Liefern sie trotz methodischer Unabhängigkeit übereinstimmende Aussagen, so kann man davon ausgehen, ein verlässliches Ergebnis in Händen zu halten.

Gravimetrische Satellitenmessung

Der erste Ansatz beruht auf gravimetrischen Messungen durch Satelliten. Diese Methode hat besonders im Bereich der Datenauswertung noch mit Problemen zu kämpfen, stellt aber einen vielversprechenden Ansatz für die Zukunft dar. Seit 2002 ist das Satellitensystem GRACE (Gravity Recovery and Climate Experiment) im Orbit. Dabei handelt es sich um zwei Satelliten, die kontinuierlich ihren Abstand zueinander bestimmen. Wenn sich ein Satellit einer Region mit erhöhter Schwerkraft (Masse) nähert, beschleunigt er sich dadurch und der Satellitenabstand vergrößert sich. Das auf diese Weise detektierte gravimetrische Signal ist die Summe aller Massen auf der Erde im Einflussgebiet der Satelliten. Die Kunst der Datenauswertung besteht im Aufteilen des Signals in seine einzelnen Anteile, darunter den Anteil der polaren Eisschilde. Fehlerquellen liegen in postglaziale, isostatische Ausgleichsbewegung der Erde, Massenflüssen in der Atmosphäre und Massenflüsse im Erdmantel. Aufgrund dieser Unsicherheiten kommen zwei aktuelle Studien kommen bei der Auswertung der GRACE-Daten auf eklatant unterschiedliche Ergebnisse. Ziel zukünftiger Forschungsarbeit ist daher die Verbesserung dieser Modelle.

Feldmessung, Modellierung und Fernerkundung in Kombination

Der nächste methodische Ansatz ist der direkten glaziologischen Methode ähnlich, lediglich die Umsetzung ist unterschiedlich. Im Prinzip werden getrennt Massengewinn und Massenverlust bestimmt, um durch einfache Summation der beiden Terme die Nettomassenbilanz zu erhalten. Während man sich für die direkte Methode die benötigten Daten durch ein dichtes Netz an Punktmessungen beschafft, ist man im Falle der Eisschilde zusätzlich auf Modellierungs- und Fernerkundungsdaten angewiesen.

Der Massengewinn (Akkumulation) über Schneefall kann unterschiedlich abgeschätzt werden. Direkte Feldmessungen sind die verlässlichsten Quellen, liefern aber räumlich nur sehr begrenzt Daten (Abb. 1). Angewandte Methoden für Akkumulationsfeldmessungen sind Schneeprofile, Firn- und Eisbohrkerne sowie Ground Penetrating Radar-Messungen. Um die Information räumlich zu verdichten, wird auf Fernerkundung oder atmosphärische Modellierung zurückgegriffen.

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Abb. 1: Feldmessungen zur Bestimmung der Akkumulation in der Antarktis. Die schwarzen Punkte zeigen Positionen von Firn- oder Eiskernbohrungen, anhand derer die Akkumulation bestimmt wurde, die orangen Linien Profile, entlang derer mittels Ground Penetrating Radar die Punktinformationen der Kernbohrungen verbunden wurden (Scientific Committee on Antarctic Research 2010).

 

Der Massenverlust (Ablation) von Eisschilden findet dynamisch (Kalben) und über Prozesse der Energiebilanz (Schmelze, Sublimation) statt. Die Kalbungsraten werden aus der Fließgeschwindigkeit und den Eisdicken bestimmt. Die Fließgeschwindigkeiten kann man punktweise mittels GPS messen, mit Methoden der Fernerkundung bestimmen (z.B. InSAR) oder dynamisch modellieren. Die Eisdicken werden mit geophysikalischen Erkundungsmethoden vor Ort gemessen und über geeignete Interpolations- und Modellierungstechniken in vollständige Eisdickenkarten überführt. Ablation als Folge der Energiebilanz des Eisschilds wird über vereinzelte Feldmessungen (Ablationspegel, automatische Klimastationen) und Energiebilanz- oder Gradtagsmodelle berechnet. Die größten Unsicherheiten dieses Ansatzes liegen in der Bestimmung von Akkumulation und Eisdicke.

Geodätische Methode

Bei dieser Art der Massenbilanzierung werden relative Änderungen des Gesamtvolumens von Eisschilden über definierte Zeiträume bestimmt und in Massenänderungen umgerechnet. Dabei kommen Methoden der Fernerkundung zum Einsatz: Die Satelliten-Altimetrie liefert regelmäßig Geländemodelle, mit denen Volumendifferenzen über verschiedene Perioden gerechnet werden können und somit ein Massenzuwachs oder -verlust bestimmt werden kann. Dieser Ansatz zeigt ein konsistentes Bild des Massenverlusts für Grönland und die Antarktis. Die Fehlerquellen sind vor allem die horizontale und vertikale Dichteverteilung des Eisschilds sowie die elektromagnetische Eindringtiefe in die Schneedecke.

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Abb. 2: Die mittlere jährliche Differenz der Oberfläche der Antarktis und Grönlands in Meter pro Jahr für das Jahr 2007 bezogen auf 2003 (Pritchard u.a. 2009).

 

Ein Vergleich der Massenentwicklung der beiden kontinentalen Eisschilde seit den 1970er Jahren berechnet von unterschiedlichen Gruppen bzw. mit unterschiedlichen Methoden wurde in Fox-Kemper u.a. (2021) vorgenommen (Abbildung 3). Sowohl das grönländische als auch das Antarktische Eisschild haben in den letzten Jahrzehnten mit zunehmender Geschwindigkeit an Masse verloren.

Das Grönländische Eisschild hat in den letzten 30 Jahren in etwa 5000 Gigatonnen (Gt)  an Masse verloren, das entspricht einem Meeresspiegelanstieg von 1.4 cm. Das Antarktische Eisschild hat im selben Zeitraum ca. 3000 Gt an Masse verloren, das entspricht 0.8cm an Meeresspiegelanstieg (Fox-Kemper u.a. (2021). Innerhalb dieser 3 Dekaden haben sich die Massenverluste jedoch stark beschleunigt, in Grönland doppelt so stark wie in der Antarktis. Es wird erwartet, dass sich die Massenverluste der beiden Eisschilde weiter beschleunigen werden.

Aus der Klimageschichte wissen wir, dass Eisschilde wesentlich langsamer Masse aufbauen, als sie Masse verlieren. Das liegt daran, dass der Massenaufbau durch Schneefall ein sehr langsamer Prozess ist, während im Vergleich dazu die Prozesse des Massenverlustes, wie das oberflächliche Abschmelzen oder das Ausfließen von großen Eisströmen viel schneller ablaufen können, unter anderem auch deshalb, weil hier starke Rückkoppelungsprozesse die Massenverluste verstärken, wie in Abbildung 4 schematisch dargestellt ist.

1-5-3_Abb3
Abb.3 Beobachtete und rekonstruierte Massenänderungen des a) Grönländischen Eisschildes und des b) Antarktischen Eisschildes und ihrer Subregionen.,c)-h) Massenänderungsraten der Subregionen der beiden Eisschilde. (Fox-Kemper u.a. 2021, Fig. 9.16)

 

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Abb.4 Zur Frage: Können die Massenverluste der Eisschilde noch rückgängig gemacht werden? Oben: Historischer Meeresspiegel als Proxy für Eisschildvolumina, Unten: Zwei Beispiele von sich selbst verstärkenden Rückkoppelungsprozessen verursacht durch Erwärmung (Fox-Kemper u.a. 2021, FAQ 9.1, Fig. 9.1)

 

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